Aias

Von Sophokles

Im „Aias“ steht der neben Achilleus tapferste und stärkste Held des Griechenheeres vor Troja im Zentrum des Geschehens. Sophokles greift die Version des Mythos auf, nach der Aias im Racherausch das Heer der Griechen, vor allen die Atriden und Odysseus, niedermetzeln will, aber, von Athene mit Wahnsinn geschlagen, seine Wut an dem Herdenvieh auslässt. Zur Besinnung gekommen, erkennt er die Tiefe der Schande, in die er gestürzt ist, und begeht Selbstmord. Bereits im Rahmen dieses Geschehens folgt Sophokles seinem von Aristoteles in der „Dichtkunst“ überlieferten Grundsatz, „er, Sophokles, gestalte seine Helden so, wie sie sein müssen, Euripides dagegen so, wie sie tatsächlich sind“. Das „wie sie sein müssen“ des Sophokles ist wiederholt im Sinne von „müssten“ oder „sollten“ gedeutet worden, das heißt, der Dichter hätte an moralische Ansprüche gedacht, denen seine Helden, im Unterschied zu denen des Euripides genügten.

Natürlich lebt die Generation des Sophokles, bei allem Stolz auf ihre Errungenschaft der Demokratie, sozusagen noch in Tuchfühlung mit jener Welt der homerischen Helden. Zweifellos haben im 5. Jahrhundert v. u. Z. noch Angehörige der alten Großgrund besitzenden Aristokratie ihr teilweise gehuldigt. Und abgesehen von Odysseus, der in diesem Stück als menschlich empfindender, verständnisvoller und besonnener Mahner auftritt, zeigen sich ja die von Aias als feige Schurken bezeichneten Widersacher der Auffassung des wahnsinnigen Schlächters durchaus angemessen: Auch ihr Horizont reicht über Ruhmsucht, übersteigertes Bewusstsein der eigenen Stellung und kleinliche Rachgier nicht hinaus.

Dennoch wäre es abwegig zu behaupten, Sophokles hätte sich mit dem Stück gleichsam zurückversetzt in eine überwundene Epoche. Er schildert, Realist, der er ist, beispielhaft das von ihm unmittelbar Erfahrene, scheut vor der Enthüllung unmenschlichen, widersinnigen, verwerflichen Handelns nicht zurück. Der Mythos gibt ihm den Rahmen, seine eigene Zeit die Farben. Als Kind wie als begeisterungsfähiger Jüngling erlebte er den Ruhm der Großen des griechischen Freiheitskampfes, eines Miltiades, Themistokles, Pausanias, wenig später ihr unrühmliches, ihrer selbst wie der Griechen unwürdiges Ende. Als reifer Mann wurde er zum Mitgestalten berufener Zeuge der weit ausgreifenden Machtpolitik des Perikles. Machtwillen, Ehrgeiz, Eigensucht, politisches Intrigenspiel, Umkehrung sittlicher Werte, Verdunkelung zweifelsfrei erbrachter Leistungen waren für den Dichter zu dem Zeitpunkt, da er den „Aias“ auf die Bühne brachte, kein Bildungserlebnis mehr; sie waren für ihn unmittelbare gesellschaftliche Erfahrung.