„‚Kurz vor Beginn der tödlichen Krankheit’, also vermutlich Ende Januar 1837, machte Büchner seiner Verlobten die ‚rätselhaft(e)’, merkwürdig bestimmt klingende Mitteilung, ‚er würde in längstens acht Tagen Leonce und Lena mit noch zwei anderen Dramen erscheinen lassen.’
Mit dem – neben Leonce und Lena und Woyzeck – dritten Drama war laut Ludwig Büchner, der sich dabei wiederum auf Wilhelmine Jaegle berief, ein Stück über Pietro Aretino gemeint, Zeitgenosse Tizians (der ihn mehrfach porträtierte) und Leonardo da Vincis.
Dass Büchner ein solches Drama bereits vollendet, wie Wilhelmine Jaegle glaubte, oder auch nur angefangen hatte, ist nicht zu belegen – es sei denn, man wolle seine briefliche Bemerkung vom 20. Januar 1837, er ‚komme dem Volk und dem Mittelalter immer näher, jeden Tag wird mir's heller’ historisch großzügig auf den Renaissanceschriftsteller Aretino beziehen. Es könnte sich lediglich um Missverständnisse und Fehlinterpretationen handeln.
Nicht von der Hand zu weisen scheint aber die Annahme, dass Büchner sich mit Aretinos Leben und Werk beschäftigte. Der Schriftsteller war eine bekannte, weil vielgeschmähte Gestalt der Literaturgeschichte. Wahrscheinlich hat Büchner in Darmstadt oder später in Straßburg den langen Artikel von Philarete Chasles über Pietro Aretino, sa vie et ses oeuvres gelesen, der Ende 1834 in der Revue des Deux Mondes erschienen war, denn im selben Jahrgang, im Heft vom 30. und in der folgenden Lieferung vom 15. Juli 1834 hatte Büchner in George Sands Lettres d'un voyage, einem Bericht über ihre Italienreise, zwei Sätze entdeckt, die er später als Motto für Leonce und Lena verwendete.
Der drastische, prärealistische und volksnahe Ton von Aretinos Komödien sowie seiner „Kurtisanengespräche“ („Ragionamenti“) wird Büchner ebenso fasziniert haben wie dessen programmatisches Bekenntnis zur Naturwahrheit der Kunst, sein politischer Anspruch ebenso wie seine korrupte Ehrlichkeit.
Wenn man bei aller gebotenen Zurückhaltung an der Existenz eines abgeschlossenen Aretino, eines „Gangsterstücks“, wie Peter Hacks mutmaßte, festhalten möchte, würde das voraussetzen, dass Büchner sein Manuskript kurz vor den Tod in die Hand eines Verlegers, eines Journallisten oder eines vielleicht selbst schriftstellernden Freundes gab und sämtliche Vorarbeiten vernichtete und dass sich ferner auch in seinem Nachlass keinerlei Spuren fanden, die auf einen entsprechenden Kontakt schließen ließen. Es müsste sich dabei um eine Zürcher Persönlichkeit handeln, die dem Kreis von Büchners hessischen Landsleuten so fern stand, dass man bei ihr keine Handschriften des Verstorbenen vermutete.
Dabei käme wie vielleicht kein anderer sonst der englische Schriftsteller Thomas Lovell Bessoes (1803–1849) in Frage. Den Schönleinschüler und -freund, der 1836/37 in der Nachbarschaft wohnte, verband vieles mit Büchner: die Herkunft aus einer Arztfamilie, das absolvierte Medizinstudium, die Spezialisierung auf vergleichende Anatomie, ein gleichzeitiger Aufenthalt in Straßburg 1832/33, die Begeisterung für Tieck und Shakespeare, ein eminentes politisches Interesse und schließlich die schriftstellerischen Ambitionen (Versdrama Death's Jest-Book, postum veröffentlicht 1850).
Dass Büchner Beddoes tatsächlich kennengelernt hat, ist jedoch nicht nachzuweisen, und so bleibt Büchners Aretino weiterhin eine Legende von andauernder Faszination.“
Jan-Christoph Hauschild (1993/2004)