Natalia Vorozhbyt: Interview und weitere Beiträge

Aus aktuellem Anlass möchten wir hier Beiträge unserer Autorin Natalia Vorozhbyt zugänglich machen, in denen sie sich zum Krieg in der Ukraine, ihrer Flucht und ihrer Arbeit äußert.

1. Beitrag in The Guardian: ‘I grabbed two rings, took my mother, daughter and the cat’: the playwright who fled Kyiv (30. März 2022)

2. Video-Statement zum Welttheatertag am 27. März 2022, veröffentlicht vom Theater Altenburg Gera auf Youtube

3. Interview in der italienischen Zeitschrift IL MANIFESTO vom 4. März 2022. Die Journalistin Lucrezia Ercolani stellte die Fragen, unsere Übersetzerin Laura Fazio übertrug den Text ins Deutsche.

Hier das komplette Interview:

„Krieg gab es schon seit Jahren, aber man hat einfach weggeschaut.“

„Die Russen dachten wohl, wir würden sie mit offenen Armen empfangen“, schreibt uns die ukrainische Filmemacherin und Schriftstellerin Natalia Vorozhbyt aus Lwiw (Lemberg). Italien hat sie im vergangenen Jahr kennengelernt, als sie auf der internationalen Kritikerwoche der Filmfestspiele von Venedig ihren ersten Spielfilm „Bad Roads“ vorstellte, der auf einem gleichnamigen Theaterstück basiert und den man dieser Tage versucht in die italienischen Kinos zu bringen. Er gewann in der Kategorie „Innovativster Film“. In vier Szenen zeigt er das „normale“ Leben an den Rändern des militarisierten Donbass-Gebiets, mit besonderem Fokus auf die Lage der Frauen. Vorozhbyts Meinung nach gab es den Krieg bereits damals, mit all dem Schmerz und der Erniedrigung, die er mit sich bringt. Vor der Invasion war sie gerade dabei die Dreharbeiten für ihren neuen Film „Demons“ abzuschließen, der ebenfalls die Beziehung zwischen Russland und der Ukraine in den Mittelpunkt stellt. Ihre Worte erreichen uns wie ein unbändiger Schrei von dort, wo man das Leben riskiert und keine Zeit bleibt, um kühle Überlegungen anzustellen.

Lucrezia Ercolani: Wo sind Sie gerade und wie haben Sie die letzten Tage verbracht? Warum bleiben Sie in der Ukraine und setzen sich den dortigen Risiken aus?

Natalia Vorozhbyt: Momentan bin ich in Lwiw (Lemberg), einer Stadt im Westen der Ukraine. Sie liegt nahe der Grenze zu Polen, deshalb ist hier die Situation gerade auch ruhig – mal abgesehen von den Luftangriffswarnungen, die uns regelmäßig erreichen. Als ich am zweiten Tag des Krieges erfuhr, dass die Russen versuchten, Kiew von allen Seiten zu umzingeln, bin ich zusammen mit meiner Mutter, meiner Tochter und meiner Katze nach Lwiw (Lemberg) aufgebrochen. Ich wollte nicht in der Falle sitzen. Viele meiner Freunde sind dort geblieben. Sie können ihre Stadt nicht verlassen und warten jetzt in den Luftschutzbunkern. Um eine Strecke von nur 500 Kilometern hinter mich zu bringen, musste ich 30 Stunden Auto fahren und vielen ist es noch schlimmer ergangen – sie waren tagelang unterwegs.

In Lwiw (Lemberg) angekommen, habe ich versucht mich von dem Schock zu erholen und mich so gut wie möglich nützlich zu machen, bislang jedoch mit wenig Erfolg. All meine Gedanken sind dort, auf den Straßen in Kiew, bei den Leuten in Kiew, ja sogar bei meinem Apartment in Kiew, in dem eigentlich meine Pflanzen gegossen werden müssten, was aber natürlich niemand machen kann. Meine Wohnung liegt in einem oberen Stockwerk mit einem schönen Ausblick. Eine Bombe könnte sie mit Leichtigkeit treffen.

Der Vater meiner Tochter hat zu den Waffen gegriffen, um die Stadt zu verteidigen. Alles was mir lieb und teuer ist, befindet sich dort. Ich hätte nur noch vier Tage in Poltawa gebraucht, um meinen neuen Film fertig zu drehen, aber die Russen haben diese Region schon eingenommen. Ich habe seit einem Jahr gedreht und wollte meine Arbeit abschließen. Jetzt drehe ich den Film in meinem Kopf weiter, während ich mich frage, wo ich eigentlich gelandet bin.

LE: In Ihrem letzten Film „Bad Roads“ haben Sie den Krieg gezeigt, als wäre er bereits in vollem Gange und dessen Auswirkungen auf das Leben der Menschen: Hätten Sie damit gerechnet, dass es so weitergehen würde?

NV: Den Krieg in der Ukraine gibt es schon seit 2014. Wir haben das allen förmlich ins Gesicht geschrien, aber niemand hat uns zugehört. Die ausländischen Medien hatten Angst von „Krieg“ zu sprechen und haben stattdessen das Wort „Konflikt“ benutzt, so als würde es sich um einen internen Landesdisput handeln und nicht um das erste Stadium des russischen Krieges gegen die Ukraine, das dann ja zur Annexion der Krim und des Donbass geführt hat. Es ist diese Blindheit, die uns in die jetzige Situation gebracht hat. All die Jahre hatten wir Angst vor einer Eskalation, aber ein Krieg dieses Ausmaßes im 21. Jahrhundert war für uns unvorstellbar. Unser Widerstand war nur für die Russen eine Überraschung. Wir waren uns der Haltung und des Potenzials unserer Leute, unserer Armee und unserer Regierung vollkommen bewusst. Unsere Agressoren sind Opfer ihrer eigenen Propaganda geworden und jetzt führen sie den Genozid am ukrainischen Volk fort. Ich übertreibe nicht, wenn ich es so bezeichne. Sie wollen uns auslöschen.

LE: Am Anfang der russischen Invasion haben sie zusammen mit anderen ukrainischen Regisseuren und Regisseurinnen einen kollektiven Appell unterzeichnet. Fühlen Sie sich von der Welt des Films und der Kultur angemessen unterstützt?

NV: Für mich ist es schwer, den Grad der uns zuteilwerdenden Unterstützung zu beurteilen. Sicherlich werden wir unterstützt und auch stark, aber in einer Situation wie dieser ist es nie ausreichend. Der Krieg könnte noch lange andauern und deshalb bitten wir alle, nicht nachzulassen in ihrer Aufmerksamkeit und alles in ihrer Macht Stehende zu tun – an Demonstrationen teilzunehmen, finanziell zu helfen, Flüchtlinge aufzunehmen, Sanktionen gegen Russland zu verhängen, zu reden, zu schreien, sich Gehör zu verschaffen. Wie mittlerweile der ganzen Welt klar ist, kämpfen wir nicht nur für die Ukraine. Vor zwei Nächten hat eine russische Rakete in Saporischschja das größte Kernkraftwerk Europas getroffen. Es wurde viele Stunden lang gekämpft. Dieser Verrückte droht der ganzen Welt mit Nuklearwaffen. Wir sind alle in seinen Händen. Die Ukraine zu unterstützen reicht also nicht aus. Es muss vollumfänglich an diesem Kampf teilgenommen werden.

LE: Viele kulturelle Institutionen haben beschlossen russische Künstler zu entlassen. Befürworten Sie solcherlei Strategien?

NV: Ja, definitiv. Alles, was gerade passiert, passiert auch wegen der stillschweigenden Zustimmung beziehungsweise des nicht geäußerten Widerspruchs russischer Künstler. Am liebsten sind mir da immer noch die, die einfach gar nichts gesagt haben! Kultur spielt in der Meinungsbildung eine entscheidende Rolle und seit den letzten zwanzig Jahren denkt die Mehrheit in Russland, wir müssten vom Antlitz der Erde getilgt werden. An dieser Haltung sind auch die russischen Kulturschaffenden Schuld.

LE: Es sprechen sich aber auch immer mehr Russen gegen den Krieg aus, unter ihnen auch einige Regisseure, die sich trotz der drohenden Risiken zu Wort melden. Denken Sie, man könne mit ihnen das Gespräch suchen?

NV: Deren unterstützende Worte kommen viel zu spät, wir haben lange auf sie gewartet. Sicher: besser spät als nie. Aber die Risiken, denen sie sich aussetzen, sind nichts gegen die, denen sich aktuell die ukrainische Bevölkerung in jeder Minute stellt. Ich empfinde kein Mitgefühl mit ihnen und ich glaube nicht, dass Gespräche gerade etwas nützen würden. Das wäre zwecklos. Wir müssen zuerst den Krieg gewinnen, danach sehen wir weiter.

LE: Sie haben in Ihrem Film gezeigt, wie die Militarisierung des Donbass Elend ins Leben der Ukrainer gebracht hat. Was glauben Sie wird dieser Krieg in der Gesellschaft Ihres Landes hervorrufen?

NV: Charkiw, Tschernihiw und Cherson sind allesamt wunderschöne Städte mit einer reichen Geschichte. Sie werden bombardiert und vom Angesicht der Erde getilgt. Tausende Zivilisten sterben. Dieser Krieg kann die Ukrainer nur in einem Gefühl des Hasses gegen die Russen vereinen. Natürlich belastet und traumatisiert uns der Krieg. Jeder von uns hat in diesem Kampf bereits etwas verloren. Wenn der Krieg erstmal vorbei ist, werden wir jahrzehntelang über ihn schreiben und Kriegsfilme drehen, um unsere Wunden zu heilen. Aber neben dem Hass gibt es in der Ukraine auch eine große Liebe und Dankbarkeit füreinander, ein Bewusstsein für unseren eigenen Wert und die Bedeutung der Souveränität unseres Landes. Ich glaube, dass trotz aller Schandtaten, die dieser Krieg mit sich bringen wird, wir am Ende vereint und hoffentlich unabhängig vom russischen Einfluss sein werden.

LE: Hätte es Ihrer Meinung nach die Möglichkeit gegeben, all den Schmerz und die Toten zu vermeiden?

NV: Natürlich: Wenn wir uns 2004 und 2014 nicht gegen Putins Schützling Janukowitsch gewehrt hätten, wenn wir in eine wirtschaftliche Union mit Russland eingetreten wären, wenn wir unsere Straßen nach Europa geschlossen hätten. Wir hätten unsere Souveränität aufgeben, der Demokratie abschwören und einem Diktator an der Spitze des Landes gehorchen müssen, und dann hätten wir denselben Status wie Weißrussland. Dann wären jetzt alle am Leben. Aber kann man das denn Leben nennen?

© Jekaterina Gornostai