Uraufführung von Armin Petras' ION bei den Leipziger Festspielen

Im Rahmen der Leipziger Festspiele, mit denen sich Intendant Sebastian Hartmann vom Leipziger Centraltheater verabschiedet, ist Armin Petras' Neuinterpretation der Euripides-Tragödie ION (1 D | 4 H) uraufgeführt worden. In einer eigens für die Festspiele geschaffenen Arena, die in den Saal des großen Hauses integriert wurde, konnte das Publikum - wie im Halbrund des antiken Theaters - das Ringen von Xuthos, Kreusa und Ion um die Wahrheit und die Deutungshoheit über das eigene Schicksal verfolgen.

Armin Petras, der das Orakelstück selbst auf die Bühne brachte, sieht den eigenen Umgang mit der "Wahrheit" als Quintessenz des Textes:

"ein mann und eine frau, eheleute, reisen nach delphi, um zu erfahren, ob sie einmal ein kind haben werden. dort erfahren sie, in einem mehr als schmerzhaften prozess, im gespräch mit dem tempelwärter, dass die frau ein kind hat. nämlich den tempelwärter. und dass dessen vater der gott apoll ist, der die frau vor jahren verführt hat (das wort vergewaltigt gibt es im altgriechischen nicht im zusammenhang mit göttern, vielleicht weil sie es nicht nötig hatten, physische gewalt anzuwenden, oder weil es ihnen immer gestattet war, wie den athener bürgern gegenüber ihren sklav/innen). das interessante an dem stück ist aber nicht die wahrheit/das orakel, sondern der umgang mit ihr/ihm. es gibt hier nicht nur die idee, dieses orakel anders oder auch gegensätzlich interpretieren zu können, sondern auch den versuch, die verwirklichung des orakels zu verhindern, nämlich genau dann, wenn das, was man verstanden, also richtig interpretiert hat, ein unglück, eine demütigung oder ein betrug ist. es wird eben nicht nur das orakel interpretiert (wie in jedem normalen christlichen gottesdienst), sondern die wahrheit des orakels wird auf die probe gestellt, wird geprüft. die wahrheit wird diskutiert, ihr wird nachgeforscht bis dahin, dass die göttliche weisheit zwar erkannt und bestätigt wird, sie aber im kern für unmenschlich und nicht lebbar abgelehnt wird. hier im ION von euripides bekommt die PARRHESIA eine weitere entscheidende ebene hinzu, es geht nicht nur um die wahrheit an sich, sondern auch darum, ob diese wahrheit ETHISCH ist, das heißt schlichtweg, ob wir mit ihr wirklich leben wollen, oder ob es nicht an der zeit wäre, eine neue wahrheit durch eine neue praxis herzustellen. der wahrheit nachsinnen, sie ablehnen und erfahren, sie verweigern und verfluchen, sie verstehen und doch nicht akzeptieren, die wahrheit ein schmerz, der notwendig ist für künftiges leben."

© Ralph Arnold
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