In dem letzten der erhaltenen Stücke bringt der neunzigjährige Dichter noch einmal die Gestalt des Labdakos-Enkels auf die Bühne. Im „Oidipus in Kolonos“ erreicht der blinde Greis nach langen Jahren entbehrungsreichen unsteten Bettlerdaseins, geleitet von seiner treu zu ihm haltenden Tochter Antigone, den Gau Kolonos bei Athen; dort wird er nach göttlichem Willen die letzte Ruhestätte finden. Der attische König Theseus gewährt ihm Asyl. Doch zweimal noch drohen die Wogen des politischen Geschehens zu Theben den Greis in ihren Strudel reißen. Kreon als Parteigänger des Eteokles, dann Polyneikes als Emigrant wollen den Vater jeweils zu ihrem Nutzen für eine Rückkehr nach Theben gewinnen. Der gewaltsame Versuch Kreons scheitert am Eingreifen des Theseus; die Bitte des Polyneikes schlägt Oidipus unter Verfluchung beider Söhne ab. Dann wird der Blinde im Hain der Eumeniden dem irdischen Leben auf geheimnisvolle Weise entrückt, um künftig als Heros des Gaus Kolonos das Land Attika und seine Hauptstadt vor Feinden zu schützen.
Das Alterswerk des Dichters bietet nicht, wie die übrigen erhaltenen Stücke, ein straff gestaltetes Geschehen, dessen dramatische Wucht aus einem Konflikt und dessen wie immer gearteter Lösung erwächst. Geboten wird vielmehr eine Reihe von Szenen und sie beherrschender Faktoren, die, teils hemmend, teils förderlich, das Heranreifen des schwachen blinden Greises zum segensspendenden göttlichen Beschützer Attikas vor Augen führen.
Sophokles beschwört in einer Zeit, da der militärische Zusammenbruch des durch Parteienzwist und übertriebene Machtansprüche ruinierten Staates bevorsteht, die großartige Vision einer attischen Bürgerschaft und eines attischen Königs, deren politisches Bekenntnis sich auf Gerechtigkeit, selbstloses Eintreten für Verfolgte und Bedrängte, schließlich Bewahrung des Friedens gründet; im tiefsten Elend erhält sich Oidipus das stolze Bewusstsein, letztendlich unschuldig an den von ihm begangenen Verbrechen zu sein, vielmehr durch die über Menschenmaß hinausgehende Schwere seines Leides von den Göttern ausgezeichnet und zum Schutze der Friedfertigen vor den Friedensbrechern berufen zu werden; zudem wirkt tröstend und versöhnend die opferbereite Treue der Töchter, die unter Verzicht auf jegliche ihrem Alter gemäße Freude des Lebens dem Vater in seiner Not helfend zur Seite stehen.
Das Zusammenwirken der genannten Faktoren verleiht der Szenenfolge eine atemberaubende Spannung, eine bei allen Unterschieden zum dramaturgischen Aufbau der früheren Stücke von der ersten Szene an lebendige und zielstrebige Bewegung, die in einen von allen Dissonanzen befreiten, erlösenden Schlussakkord ausklingt. Die im besten Sinne weihevolle sprachliche Gestaltung des letzten Botenberichtes, der die Entrückung des Dulders darstellt, gewinnt ihr Pathos gerade aus äußerster Schlichtheit in Wortwahl und Satzbau.