Philoktetes

Von Sophokles

Es ist aufschlussreich zu sehen, wie der schon hoch in den Achtzigern stehende – und zu Lebzeiten an äußerem Erfolg ungleich überlegene – Rivale des Euripides in seinem Werk auf die für ihn ebenso ersichtlichen und schmerzlich spürbaren Herausforderungen der letzten Kriegsjahre reagierte. Er tat es mit der Tragödie „Philoktetes“.

Auf der Fahrt nach Troja hatten die Griechen den Helden, der aufgrund eines Schlangenbisses an einer schmerzhaften, übel riechenden, nicht heilbaren Wunde litt, gegen seinen Willen auf der Insel Lemnos ausgesetzt. Im zehnten Kriegsjahr erfuhren sie, dass sie ohne den Einsatz des Philoktetes bzw. seines ihm von Herakles vererbten Bogens und seiner Pfeile Troja nicht erobern könnten. Da schickten sie Odysseus, der bei der Aussetzung des Helden eine führende Rolle gespielt hatte und deshalb dem Philoktetes besonders verhasst war, mit Neoptolemos nach Lemnos; sie sollten den Kranken, der dort einsam unter schwersten Bedingungen lebte, nach Troja holen.

Hier setzt die Tragödie ein: Auf Anweisung des Odysseus, der sich vor dem Ausgesetzten zunächst nicht sehen lassen wollte, soll Neoptolemos dem Philoktetes vorspielen, er hätte sich mit den griechischen Fürsten verfeindet, segle in die Heimat zurück und sei bereit, Philoktetes nach Hause mitzunehmen. Philoktetes schenkt dem Neoptolemos, der sich nur widerwillig zu solcher Intrige hergibt, Glauben und vertraut ihm sogar während eines Anfalls der Wundschmerzen seinen Bogen an. Neoptolemos aber hält aufgrund seines Charakters die ihm aufgetragene Rolle nicht durch, enthüllt die Wahrheit und gibt dem Philoktetes den Bogen zurück. Indes weigert sich der verbitterte Held nach wie vor entschieden, an dem Krieg teilzunehmen. Erst das Erscheinen des Herakles veranlasst ihn, mit nach Troja zu fahren.

Das Stück, in dem als einzigem der erhaltenen sophokleischen Dramen eine weibliche Rolle fehlt, gewinnt, seine Spannung aus dem Zusammenspiel dreier charakterlich grundverschiedener, teilweise gegensätzlicher Männer.

Sogar für einen Dichter, der beim Publikum eine stärkere Beliebtheit genoss als er, würde sich im Jahre 409, dem 22. Jahr des Peleponnesischen Krieges, schwerlich ein Archont gefunden haben, der eine Aufführung des Stückes genehmigte. So entschied sich denn auch Sophokles einmal für den Deus ex machina, der seinem dramatischen Schifflein ein sicheres Einlaufen in den Hafen des Mythos gestattete. Und nicht irgendeinen Gott, sondern den vergöttlichten Herakles, den besten Freund, dessen Philoktetes sich je hatte erfreuen können und dem er in schwerer Stunde hilfreich den bitteren Liebesdienst erwies, lässt er auftreten und das für die Durchhaltestrategen allzu bedenklich in Schlingern geratene Geschehen auf die rechte Bahn zurücklenken. Vor der Autorität des göttlichen Freundes schmilzt der Widerstand des Philoktetes dahin.